‚politeness‘

Der 23jährige Hume ueber Politeness in einem „Brief an Michael Ramsay“ Rheims 12.09.1734. Veroeffentlicht bei John Hill Burton: Life and Correspondence of David Hume. Edinburgh (William Tait) 1846, S. 51- 56.


Die Franzosen besitzen wirkliche ‚politeness‘

„Bei der Abreise aus Paris gab mit Chevalier Ramsay den Rat, sorgfaeltig das Verhalten der Franzosen zu beobachten und sie soweit als moeglich nachzuahmen. Denn, so meinte er, auch wenn die Englaender moeglicherweise mehr ‚politeness‘ des Herzens besaeßen, so haetten die Franzosen bereits den besseren Weg gefunden, sie zu auszudruecken. Dies veranlasste mich ueber die Sache nachzudenken. Ich kam zu dem Schluss, dass nach meiner bescheidenen Meinung gerade das Gegenteil der Fall sein duerfte; naemlich dass die Franzosen mehr wirkliche ‚politeness‘ besaeßen und die Englaender die bessere Art sie auszudruecken. Mit wirklicher ‚politeness‘ bezeichne ich Gelassenheit und die ernsthafte Geneigtheit Beduerfnisse anderer zu achten und ihnen nuetzlich sein zu wollen. Unter den Franzosen ist derartiges sehr deutlich zu beobachten, und zwar nicht nur in den oberen, sondern auch in den unteren Gesellschaftsschichten. Selbst Wirte und Kutscher verhalten sich hier nicht nur gegenueber Hoehergestellten zivilisiert, sondern auch untereinander. In Frankreich habe ich bisher keine einzige heftige Auseinandersetzung gesehen, in England trifft man ueberall darauf.

Gute Umgangsformen ersetzen wirkliche ‚politeness‘

Das, was man unter „‚politeness‘ ausdruecken“ versteht,   sind fuer mich im Kontext von Gewohnheit und gesellschaftlichem Umgang erfundene Respektsbezeugungen und Umgangsformen. Sie ersetzen selbst bei Menschen mit den besten Eigenschaften den Mangel an wirklicher ‚politeness‘ und Freundlichkeit, um sich in der Welt sowohl gegenueber Fremden als auch gegenueber Ihresgleichen entsprechend verhalten zu koennen.

Freundliche Umgangsformen machen das Leben angenehm.

Diese Umgangsformen sollten meiner Meinung nach so beschaffen sein, dass sie erfreulich wirken, ohne vorzutaeuschen, ernst gemeint zu sein, damit jeder sich darum wissend und zustimmend einer angenehmen Illusion hingeben kann.

Extreme Positionen über Umgangsformen sind in der Sache unhaltbar

Es duerfte ein Irrtum sein, sich in eines der beiden folgenden Extreme retten zu wollen. Naemlich Umgangsformen entweder fuer bare Muenze zu nehmen oder fuer Falschgeld. Ich denke, wir koennen beobachten, dass die erste Variante so gut wie unmoeglich ist. In dem Moment naemlich, wenn von irgendeinem Wort oder einer Handlung regelmaeßig gesellschaftlicher Gebrauch gemacht wird, kann niemand mehr getaeuscht werden. Wenn z.B. die Quaeker sagen ‚ihr Freund‘, so ist dies offensichtlich genauso aufzufassen, wie wenn ein anderer sagte ‚ihr ergebener Diener‘. Die Franzosen[ – in Gestalt des Chevaliers Ramsey -] irren bezueglich des Gegenteiles, in dem sie ihr zivilisiertes Benehmen fuer pures Falschgeld ausgeben,   zumal franzoesisches Benehmen keine Anhaltspunkte dafuer gibt, derartiges glaubwuerdig zu machen. Wenn ein Dramendichter Regeln ueberschreitet, indem er irgendetwas Unpassendes in seine Geschichte einfuegt, so kann man sicher sein, dass die Darstellung, die Szenen, die Beleuchtung, die Schauspieler und 1000 andere Umstaende es ihm unmoeglich machen, darueber hinweg zu taeuschen.

Was die Engländer den Franzosen voraus haben.

Ich halte es fuer einen weiteren Fehler franzoesischen Verhaltens, dass es – wie die franzoesische Kleidung und Moeblierung – zu auffaellig ist. Ein wohlerzogener englischer Gentleman unterscheidet sich vom Rest der Welt mehr durch den gesamten Tenor seiner gesellschaftlichen Gepflogenheiten als durch einzelne Elemente darin. Man steht aber mit leeren Haenden da – auch wenn man es wahrnehmen kann, dass Englaender sich darin deutlich unterscheiden -, wenn man dies konkretisieren moechte. Es gibt keine spezifisch entwickelten Umgangsformen oder Komplimente, die man zum Beweis englischer ‚politeness‘ anfuehren koennte. Ein Englaender praktiziert ‚politeness‘ derart unauffaellig und zurueckhaltend, so dass diese wie normales, alltaegliches Handeln erscheint, das anderen den Kummer erspart, sich dafuer bedanken muessen. Englische ‚politeness‘ scheint immer dann am herausragendsten zu sein, wenn sie so wenig wie moeglich auffaellig in Erscheinung tritt.

Die Praxis freundlicher Umgangsformen ermöglicht Veränderung des Einzelnen.

Doch zum Schluss moechte ich einraeumen, dass die kleinen ‚Nettigkeiten‘ franzoesischen Verhaltens – obwohl ich sie anstrengend und unangemessen finde -, den Verhaltensweisen gewoehnlicher Leute nuetzen, in dem sie einem rueden und brutalen Umgang vorbeugen. Aehnliches geschieht vermutlich, wenn Soldaten mutiger werden, waehrend sie lernen innerhalb eines halben Inches ihre Musketen zielgenau zu halten; oder wenn Ihre Frommen sich froemmer fuehlen, waehrend sie fromme Rituale ausfuehren, wie kleine Opfermuenzen spenden, sich hinknien oder sich bekreuzigen; die Ausuebung dieser Nettigkeiten scheint Menschen, die sonst nicht dafuer empfaenglich sind, weicher gegenueber anderen zu machen. Der Mensch findet selber Freude an dem Fortschritt, den er macht, wenn er derartiges im Umgang mit anderen verwendet. Waehrend er so unterstuetzt wird, kann er gelassen fuer sich Wichtiges entwickeln. Ich glaube ganz sicher, dass dies der Grund dafuer sein duerfte, dass man in Frankreich kaum jemals Proleten (ill-bred men) oder Mackertypen (clowns) begegnen wird.


Ein Kommentar zu “‚politeness‘

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