Gemeinsam geteilte Werte ergeben sich aus gemeinsamem Handeln


Der Mainstream der rationalistisch gepraegten Philosophie geht seit Jahrhunderten davon aus, dass menschliches Handeln durch Vernunft, den Willen, durch Denken, und in folge dieser Erkenntnisse durch absichtliches Streben gelenkt werden koenne. Entsprechend finden sich kulturelle Haltungen und Einstellungen wie sie folgende Termini dokumentieren: Sei doch vernuenftig! Reiss dich doch mal  zusammen!  Streng dich an, dann klappt’s schon! u.a.m. Die Auffassung ,jemand muesse nur zur Besinnung gebracht werden, dann werde er schon zur Vernunft kommen, rechtfertigt im Interesse aller jede Art von Massnahme gegenueber Einzelnen. Es scheint mir privat und oeffentlich feststellbar, dass derartige Appelle und Massnahmen auf das Handeln jedes mit jedem bzw. aller mit allen wenig Einfluss haben duerfte.

Dennoch wird oeffentlich und privat an derartigen Auffassungen unbeirrt festgehalten. Dies duerfte u.a. eine Folge von Enkulturation sein. Sie macht Menschen unempfaenglich fuer das, was ihr Handeln von Anfang ihres Lebens an bestimmt; vermutlich weil es sie schon bestimmte, als Eigenstaendiges noch kaum entwickelt war. Zwischen den Menschen ergibt sich so z.B. die allzu menschliche Neigung den Balken im eigenen Auge zugunsten von Splittern in den Augen anderer zu uebersehen. Ein vergleichbare Empfindungslosigkeit fuer eigene Selbstverstaendlichkeiten – und einer daraus folgenden Distanz- und Kritiklosigkeit für Eigenes – duerfte auch Philosophen aller Zeiten bestimmt haben. Erinnerungen an ihre jeweilige Enkulturation duerften auch ihnen in der Regel kaum zugaenglich sein. Eigene Sichten, Werte und eigenes Verhalten gelten so allzu oft als notwendig gegeben und werden mit Ewigkeitswert ausgestattet. Meinen Kenntnissen nach ueber Metaphysik folgend, gehe ich davon aus, dass auf der Basis dieser kulturell erworbenen Sichten und Werte in der Metaphysik allgemein menschlich gültige Vernunftkonzepte konstruiert und so als Impulsgeber fuer Rat und Tat angesehen werden.

Hume scheint Aehnliches aufgefallen zu sein. Die Vertreter der Metaphysik, so schrieb er zu Beginn seiner ‚Untersuchung ueber den menschlichen Verstand’„… gehen davon aus, dass der Mensch vor allem als ein denkendes anstatt als handelndes Lebewesen betrachtet werden sollte und deshalb kuemmern sie sich hauptsaechlich darum, sein Denken zu verbessern anstatt Zwischenmenschliches. Fuer sie ist Letzteres ein Gegenstand von Spekulationen, das sie eng fokussierten Untersuchungen unterziehen, um so Prinzipien zu finden, die unser Denken regulieren und unsere Empfindungen wecken. Sie fordern uns dann auf, jedes einzelne Ereignis, jede Handlung und jedes Verhalten gemass dieser Prinzipien entweder gut zu heissen oder zu verwerfen.“ (Untersuchung ueber den menschlichen Verstand I, 2)

Da Metaphysiker vernuenftiges Denken zum Motor des menschlichen Handelns erklaerten, behaupteten sie, dass alltaegliches zwischenmenschliches Handeln keine grundlegende Funktion fuer das Entwickeln eigener Werte und der eigenen Faehigkeiten fuer Zwischenmenschliches haben könne. Diesem Ansatz widersprach Hume grundlegend, gruendlich und umfassend, in dem er vom ‚hinsehen‘ auf sein eigenes Handeln und auf das anderer ausging – es folgte die philosophiegeschichtlich dokumentierte Marginalisierung seines ‚philosophieren‘ durch Metaphysiker.

Auszüge aus dem III. Band des Treatise of Human Nature ( Abhandlung über die menschliche Natur)

Handeln anderer beeinflusst das individuelle Handeln

Wuerden Menschen ganz selbstverstaendlich davon ausgehen, dass die in einer Gesellschaft praktizierte Zwischenmenschlichkeit  keinen Einfluss auf Neigungen und Handlungen haette, dann wuerde man sich nicht die Muehe machen, die Menschen immer wieder zu entsprechendem Verhalten  anzuhalten. Nichts waere dann nutzloser, als die Vielzahl einzelner Regeln und Vorschriften, die entsprechende Fachleute reichlich produzieren.

Ueblicherweise unterscheidet man zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Praktische Fragen moralischer Standards werden unter der letzteren abgehandelt. Auch dies unterstellt, dass die in einer Gesellschaft praktizierte Mitmenschlichkeit individuelle Neigungen und Handlungen beeinflussen und dass dieser Einfluss ueber das hinausgeht, was die in aller Ruhe, ungestoert gefaellten Schlussfolgerungen menschlichen Denkens leisten koennen. Diese Einschaetzung wird durch die  allgemeine Erfahrung bestaetigt, der Menschen entnehmen koennen, dass

  • Menschen vor allem ihre Pflichten tun
  • Menschen Handlungen unterlassen, die allgemein fuer ungerecht gehalten werden
  • Menschen im Rahmen ihrer Pflichterfuellung gedraengt werden können anderes zu tun, als sie selber wollten.

Treat. 3.1.1.5

Regeln des Handelns bilden sich im Zusammenwirken aller

Wenn also die in einer Gesellschaft praktizierte Mitmenschlichkeit unser Tun und unsere Neigungen beeinflusst, dann könnte man daraus vermuten, dass mitmenschliche Werte nicht dem Denken entstammen und – wie ich bereits mit Hinweisen auf andere Aspekte deutlich gemacht haben – auch niemals einen vergleichbaren Einfluss haben können. Gesellschaftsweit praktizierte Mitmenschlichkeit ruft ähnliches Engagement der Menschen hervor und produziert oder verhindert ‚menschlich handeln‘.  Das Denken allein versagt hier völlig. Die Regeln mitmenschlichen Handelns dürften deshalb keine Ergebnisse unseres Denkens sein.
Treat. 3.1.1.6

Orginal

Action evokes morality

If morality had naturally no influence on human passions and actions, ’twere in vain to take such pains to inculcate it; and nothing wou’d be more fruitless than that multitude of rules and precepts, with which all moralists abound. Philosophy is commonly divided into speculative and practical; and as morality is always comprehended under the latter division, ’tis supposed to influence our passions and actions, and to go beyond the calm and indolent judgments of the understanding. And this is confirm’d by common experience, which informs us, that men are often govern’d by their duties, and are deter’d from some actions by the opinion of injustice, and impell’d to others by that of obligation.
Treat. 3.1.1.5

Action before reason

Since morals, therefore, have an influence on the actions and affections, it follows, that they cannot be deriv’d from reason; and that because reason alone, as we have already prov’d, can never have any such influence. Morals excite passions, and produce or prevent actions. Reason of itself is utterly impotent in this particular. The rules of morality, therefore, are not conclusions of our reason.
Treat. 3.1.1.6

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